Europa und Lateinamerika erleiden Rückschläge im Regionalismus, bekräftigt deutsche Wissenschaftlerin

Nach sechs Jahren in Brasilien, fünf davon am Martius-Lehrstuhl für Deutschland- und Europastudien an der Universität São Paulo (USP), kehrt die deutsche Politikwissenschaftlerin Brigitte Weiffen – oder Britta, wie sie gerne genannt wird – nach Europa zurück, um sich in Großbritannien einer neuen akademischen Herausforderung zu stellen.

In einem Interview erzählt Weiffen von ihrer Eingewöhnung an die brasilianische Hochschulkultur und von den Erkenntnissen und Fähigkeiten, die sie am Martius-Lehrstuhl erworben hat. Außerdem erläutert sie die Hauptpunkte ihrer Forschungsarbeit „Regionalism under Stress: Europe and Latin America in Comparative Perspektive” (Regionalismus unter Druck: Europa und Lateinamerika aus vergleichender Sicht).

Wie die Politikwissenschaftlerin ausführt, steht der Regionalismus sowohl in Europa als auch in Lateinamerika unter Druck. „Die Europäische Union (EU) wurde durch die Krise in der Eurozone, Flüchtlingsströme, Terroranschläge, Euroskepsis und den Brexit auf die Probe gestellt. In Lateinamerika stagniert die regionale Zusammenarbeit in Organisationen wie Mercosur, UNASUR und CELAC”, bekräftigt Weiffen.

Lesen Sie nachfolgend das vollständige Interview:

DWIH São Paulo: Wie waren diese fünf Jahre am Martius-Lehrstuhl für Deutschland- und Europastudien an der USP? Was hat Sie am meisten beeindruckt?

Britta Weiffen: Ich werde mich immer mit großer Dankbarkeit an diese sechs Jahre in Brasilien erinnern – ein Jahr als Gastprofessorin am Institut für Internationale Beziehungen der USP und fünf Jahre am Martius-Lehrstuhl. In diesen Jahren habe ich viel gelernt, inspirierende Menschen getroffen und neue Themenkreise für meine Forschung entdeckt – leider auch im Hinblick auf die politische Krise in Brasilien, die sich während meines Aufenthalts entwickelt hat.

Da die USP eine riesige Institution ist und es sich bei der Partnerschaft mit dem DAAD nur um eine der vielen internationalen Initiativen der Universität handelt, habe ich am Anfang nicht viel Unterstützung erhalten. Es hing zum großen Teil von meiner eigenen Initiative ab, Kontakte zu Kollegen herzustellen, ein gewisses Ansehen zu erlangen und den Bekanntheitsgrad des Lehrstuhls zu erweitern.

Dadurch hatte ich auf der anderen Seite aber auch ein hohes Maß an Autonomie und Gestaltungsfreiheit. Obwohl dies keine leichte Aufgabe war, war die Möglichkeit, meinen eigenen akademischen Aktionsbereich innerhalb des breiteren Rahmens Deutschland- und Europastudien zu definieren und zu gestalten, eine Bereicherung für mich.

DWIH SP: Welche Erfahrungen nehmen Sie aus dieser Zeit in Brasilien mit nach Deutschland?

Die Sozialwissenschaftlerin Brigitte Weiffen

BW: Da sind erstens die Kontakte, die ich in Brasilien und Lateinamerika über meine Zusammenarbeit mit Kollegen und meine Teilnahme an mehreren Vortragsveranstaltungen und Seminaren geknüpft habe. Im Gegensatz zu den meisten deutschen Forschern, die nach Brasilien kommen – hauptsächlich, um für kurze Zeit ihre eigenen Forschungen durchzuführen – war meine Arbeit an der USP langfristiger und weitreichender, dazu gehörte unter anderem die Mitarbeit an einem Post-Graduierungsproramm des Instituts für Politikwissenschaft sowie die Betreuung von Studenten.

Außerdem geben Gastprofessoren an DAAD-Lehrstühlen nicht nur Unterricht und betreiben eigene Forschungsprojekte, sondern erhalten auch finanzielle Unterstützung, um die Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen Gemeinschaften in den Ländern, in denen sie tätig sind, und Deutschland zu fördern.

Um Netzwerke aufzubauen und die Zusammenarbeit zwischen brasilianischen und deutschen Kollegen zu fördern, bestand ein wesentlicher Teil meiner Arbeit darin, Themen von gemeinsamem Interesse zu identifizieren – oft in Absprache mit brasilianischen Professoren oder Studenten – sowie Vorträge, Workshops und andere akademische Veranstaltungen zu organisieren. Über diese Arbeit konnte ich Management- und Führungsqualitäten gewinnen – eigentlich ganz wesentliche Eigenschaften für einen Professor, die ich allerdings vorher während meiner akademischen Standardkarriere, die sich hauptsächlich auf Forschung und Veröffentlichungen konzentrierte, oft vernachlässigt habe.

DWIH SP: In Ihrem jüngsten Buch „Regionalism under Stress: Europe and Latin America in Comparative Perspektive“ vergleichen Sie Regionalismus in Europa und Lateinamerika. Was hat bei diesem Vergleich am meisten Ihre Aufmerksamkeit erregt?

BW: Das Buch, das ich gemeinsam mit Professor Detlef Nolte vom German Institute for Global Area Studies (GIGA) veröffentlicht habe, ist ein sichtbares Ergebnis der Aktivitäten des Martius-Lehrstuhls. Es handelt sich um eine Sammlung von Arbeiten auf der Grundlage von Vorträgen lateinamerikanischer und europäischer Professoren an den Europatagen – einer vom Martius-Lehrstuhl geförderten internationalen und interdisziplinären Veranstaltung über Fragen im Zusammenhang mit der europäischen Integration. In der Ausgabe 2017 gingen wir von der Beobachtung aus, dass der Regionalismus sowohl in Europa als auch in Lateinamerika unter Druck steht. Die Europäische Union (EU) musste sich mit der Krise in der Eurozone sowie mit Flüchtlingsströmen, Terroranschlägen, der Euroskepsis und dem Brexit auseinandersetzen. In Lateinamerika stagniert die regionale Zusammenarbeit in Organisationen wie Mercosur, UNASUR und CELAC.

In seinen verschiedenen Kapiteln identifiziert das Buch verschiedene Stressfaktoren, die sich auf den Regionalismus ausgewirkt haben, wie Wirtschafts- und Finanzkrisen, Sicherheitsherausforderungen, Identitätsprobleme, die durch Zuwanderer- und Flüchtlingsströme aufgeworfen werden, der Aufstieg von Populisten sowie regionale und globale Dynamik der Macht.

Auch wenn es auf den ersten Blick plausibel erscheint, dass diese Stressfaktoren zu Desintegrationsprozessen in regionalen Organisationen führen, stehen den Auswirkungen dieser Faktoren regionale Schlichtungscharakteristiken gegenüber, die Elemente der Resilienz liefern können. Unser Vergleich zwischen den regionalen Organisationen Europas und Lateinamerikas zeigt, dass diese Resilienzelemente im europäischen Fall viel robuster sind als in Lateinamerika.

DWIH SP: Warum ist die Europäische Union Ihrer Meinung nach widerstandsfähiger als Lateinamerika?

BW: Die gegenseitige Abhängigkeit im Hinblick auf Sicherheitsfragen, sowie intraregionaler Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit sind im Falle der europäischen Integration wichtige Elemente der Resilienz. Andere Faktoren sind die Verflochtenheit und institutionelle Einrichtungen (wie die Europäische Kommission, das Europäische Parlament oder der Europäische Gerichtshof), die das Integrationsprojekt in Zeiten der Meinungsverschiedenheiten zwischen den einzelnen Mitgliedstaaten aufrecht erhalten.

Darüber hinaus findet der pro-europäische Diskurs der politischen Eliten trotz des wachsenden Nationalismus immer noch Resonanz unter den Bürgern. Die Situation in Lateinamerika ist anders, da dort den zentrifugalen Desintegrationstendenzen weniger Elemente der Resilienz entgegenstehen.

DWIH SP: Wo liegen die Hauptunterschiede bei der öffentlichen Politik im Umgang mit Flüchtlingen in diesen beiden Regionen? Wie geht jede Region mit der zunehmenden Zahl von Einwanderern und Flüchtlingen im Hinblick auf die Identitätsfrage um?

BW: In Bezug auf die öffentliche Politik hat sich die Europäische Union seit 2003 auf eine gut entwickelte gemeinsame Asylpolitik geeinigt. Trotzdem gibt es immer noch Probleme wie die unverhältnismäßige Belastung der Mittelmeerländer (wo die meisten Flüchtlinge ankommen) und der Widerstand einiger osteuropäischer Länder, Flüchtlinge aufzunehmen. In Lateinamerika wiederum wird die Flüchtlingspolitik in der Regel jeweils von den einzelnen Staaten festgelegt, die Koordination auf regionaler Ebene ist gering.

In Bezug auf die Frage der Identität besteht ein zentraler Unterschied darin, dass die Bevölkerungsbewegungen in Lateinamerika hauptsächlich auf regionaler Ebene oder als Süd-Nord-Migration in die USA und nach Kanada erfolgen. Vorfälle von Feindseligkeiten gegenüber Flüchtlingen sind eher auf sozioökonomische Bedenken als auf Identitätsprobleme zurückzuführen.

Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa kommen, kommen hingegen aus dem Nahen Osten, Zentralasien und Nordafrika. Viele von ihnen sind Muslime, was bei vielen europäischen Bürgern nicht nur Bedenken hinsichtlich des Identitätsverlusts hervorruft, sondern die Flüchtlingsfrage auch mit der Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus in Verbindung bringt.

DWIH SP: Wie hat sich der Aufstieg populistischer Regierungen sowohl auf Europa als auch auf Lateinamerika ausgewirkt?

BW: Aufgrund unterschiedlicher politischer Systeme – Präsidialsystem in Lateinamerika und Parlamentarismus in Europa – gründet sich der lateinamerikanische Populismus hauptsächlich auf dem Aufstieg von Einzelpersonen als Führer, während er in Europa eher in Form populistischer Parteien (mit einigen Ausnahmen wie Silvio Berlusconi in Italien) auftritt. So war das am häufigsten zu beobachtende Phänomen in europäischen Ländern eine Zunahme der Präsenz populistischer Parteien in den Parlamenten.

In beiden Regionen hat Populismus ambivalente Konsequenzen für die Demokratie. Einerseits kann er die Inklusion fördern, indem er ausgeschlossene Bereiche der Gesellschaft mobilisiert oder Gruppen eine Stimme gibt, die sich nicht von der politischen Elite vertreten fühlen. Auf der anderen Seite propagieren Populisten die Idee eines homogenen Volkes und ignorieren den Pluralismus – wesentliche Grundlage moderner Gesellschaften. Einmal an der Macht, benutzen sie oft den Deckmantel der Mehrheit, um Rechte von Minderheiten zu beschneiden, ihre Gegner zu verfolgen und die Institutionen zu untergraben, die für den Schutz der Grundrechte zuständig sind. So bedrohen Populisten in der Regierung grundlegende Säulen der Demokratie.

DWIH SP: Und wie können Brasilianer und Deutsche zusammenarbeiten, um die Wissenschaft zu stärken?

BW: Der internationale akademische Austausch steht vor schwierigen Zeiten, nicht nur wegen der derzeitigen Reisebeschränkungen aufgrund der Covid-19-Pandemie, sondern auch infolge der finanziellen Kürzungen, die zahlreiche deutsch-brasilianische Kooperationsprogramme betreffen. Aber selbst in diesen schwierigen Zeiten sollten brasilianische und deutsche Forscher mithilfe von Online-Tools und -Plattformen Kooperationsprojekte starten oder fortsetzen. Es wäre wünschenswert, dass sie sich über den normalen Rahmen hinaus bemühen, ihre Ergebnisse einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, um zu zeigen, wie wichtig die Beiträge der Wissenschaft sind.

Wenn wir nur mein eigenes Fachgebiet, die Sozialwissenschaften, betrachten, stehen wir in Brasilien und Deutschland vor ähnlichen Problemen. Einige wurden bereits in diesem Interview angesprochen, aber zahlreiche andere Themen kommen hinzu. Es lohnt sich, die Probleme, ihre Ursachen, Folgen und mögliche öffentliche Maßnahmen aus einer vergleichenden und kooperativen Perspektive zu untersuchen. So können wir voneinander lernen.