Die Mauern des Autoritarismus in Brasilen zum Einstürzen bringen
Die Historikerin Lilia Schwarcz, die für das Finale des Wettbewerbs „Breakthroughs of the Year” nominiert wurde, spricht über Ursachen und Folgen des derzeit anwachsenden Autoritarismus im Land.
Im Jahr 2018 konnte man bei den brasilianischen bei den Präsidentschaftswahlen eine zunehmende Polarisierung zwischen links und rechts beobachten. Auf der einen Seite stellte sich Jair Bolsonaro als die führende Figur einer neuen Politik dar, auf der anderen vertrat Fernando Haddad die Politik der Arbeiterpartei (PT), die Brasilien fast zwei Jahrzehnte lang regiert hatte.
Der brasilianischen Historikerin Lilia Moritz Schwarcz zufolge führte dieses Polaritätsszenario zu einem Anwachsen von Intoleranz, Rassismus und Hass im Land. Dies sei, so Schwarcz, jedoch kein Einzelfall in der Geschichte Brasiliens gewesen. Der Disput von 2018 habe nur die alten Geister der brasilianischen Kulturgeschichte wieder geweckt. „Wir müssen unsere Strukturen untersuchen, um besser zu verstehen, was derzeit passiert“, betont die Historikerin.
Die ordentliche Professorin an der Fakultät für Philosophie und Humanwissenschaften der Universität São Paulo (USP) befasst sich in ihrer neuesten, 2019 erschienenen Arbeit „Über den brasilianischen Autoritarismus” mit diesem Konflikt zwischen Gegenwart und Vergangenheit in der politischen und gesellschaftlichen Geschichte Brasiliens. Das Buch legt die Gründe für den Fortbestand einiger sozialer Wunden in Brasilien dar und gewann mit der Nominierung der Historikerin für das Finale des deutschen Wettbewerbs Falling Walls – Breakthroughs of the Year in der Kategorie Sozial- und Geisteswissenschaften internationale Beachtung.
Im Exklusivinterview mit dem DWIH São Paulo erläutert Schwarcz die Beweggründe, die zur Veröffentlichung ihres Buches geführt haben, und hebt einige kritische Aspekte im Hinblick auf Verbesserungen im politischen und sozialen Szenario Brasiliens hervor. Sie spricht auch von ihre Freude über die Nominierung für Breakthroughs of the Year – der Historikerin ist es als einziger Brasilianerin gelungen, im ersten Jahr dieses Wettbewerbs einer der Finalisten zu sein.
DWIH São Paulo: Warum haben Sie sich in den letzten Jahren dazu entschlossen, den zunehmenden Autoritarismus in Brasilien zu untersuchen? Und wie ist es Ihnen gelungen, den zeitgenössischen Autoritarismus mit den historischen Varianten im Land zu vergleichen?
Lilia Moritz Schwarcz: Ich habe mich entschlossen, das Anwachsen des Autoritarismus im Land speziell wegen der Entwicklungen des Jahres 2018 zu untersuchen. Vor zwei Jahren konnte man hier in Brasilien einen deutlichen Anstieg von Intoleranz, Polarisierung, Hasspolitik und Fake News beobachten. Dieser Prozess führte zur Wahl von Jair Bolsonaro [zum Präsidenten der Republik] und einer Reihe von Abgeordneten, die ein eindeutig rückständiges, autoritäres Profil haben und sich als Kandidaten einer neuen Politik darstellen, aber in Wirklichkeit Vertreter der alten Politik sind.
Die Arbeit „Über den brasilianischen Autoritarismus“ wurde als erste öffentliche Reaktion auf den Autoritarismus in Brasilien angesehen. Das im Mai 2019 erschienene Buch beschreibt genau diesen Widerspruch, nämlich eine brasilianische Gegenwart [eine angeblich neue Politik], die in Wahrheit unsere Vergangenheit wiederspiegelt, wofür es zahlreiche Beispiele gibt. In der Arbeit hebe ich hervor, dass wir unsere Strukturen untersuchen müssen, um besser zu verstehen, was derzeit passiert. In diesem Sinne verstehe ich, dass Jair Bolsonaro nur ein Symptom und nicht die Ursache des Autoritarismus ist.
DWIH SP: Welche Punkte Ihrer Untersuchung würden Sie als besonders wichtig hervorheben?
L.M.S.: Der erste Aspekt, der in meiner Analyse ein besonderes Gewicht hat, ist das schwere Erbe der Sklaverei und des strukturellen Rassismus in Brasilien. In dem Buch zeige ich, wie sehr der Rassismus für die autoritäre Politik in unserem Land verantwortlich ist – eine Politik, in der koloniale, weiße, männliche und europäische Ausprägungen nach wie vor fest verankert sind.
Hinzu kommt ein weiterer sehr wichtiger Punkt, den wir als „Mandonismus” (vom port. Verb mandar – befehlen) bezeichnen – lokale Potentaten, die in ihren Regionen oder Bundesländern eine beinahe uneingeschränkte Macht über die anderen Menschen ausüben. Die Vertreter des gegenwärtigen Mandonismus in Brasilien sind Nachfolger der alten Grundbesitzer im kolonialen Brasilien, der Kaffeebarone im brasilianischen Kaiserreich und der Obristen in der Ersten Republik. Und es ist bemerkenswert, dass Brasilien 2018 die bis dahin größte Anzahl von Verwandten aus etablierten Politikerfamilien gewählt hat, was unterstreicht, dass dieses Phänomen im Land immer noch fortbesteht.
Das Buch befasst sich auch mit anderen Aspekten der brasilianischen Kultur wie Patrimonialismus, epidemische Gewalt, Intoleranz, Diskriminierung bestimmter Menschengruppen, Korruption und soziale Ungleichheit. Als ich anfing, es zu schreiben, lag Brasilien, was die soziale Ungleichheit betrifft, weltweit an neunter Stelle, heute belegen wir schon den achten Rang.
DWIH SP: In Ihrem Falling-Walls-Vortrag kommentieren Sie, dass Brasilien schon immer ein konservatives Land war. Wie können wir dieses Szenario ändern?
L.M.S.: Um dieses Szenario umzukehren, muss jedem Bürger Verantwortung zugewiesen werden. Korrupt ist zum Beispiel nicht nur der Bestechliche, sondern auch der Schmiergeldzahler. Jeder von uns hat seine Rolle in dieser Geschichte. Es ist an der Zeit, dass sich die brasilianische Gesellschaft nicht mehr als ein Sammelsurium von Migranten begreift und beginnt, ihre großen Doppelknoten zu lösen, nämlich die Widersprüche, die unsere Gesellschaft prägen.
DWIH SP: Einer der von Ihnen angesprochenen Punkte ist, dass wir ein Volk sind, das keine Wahltradition besitzt. Wie könnten wir auf die Politik und die Politiker unseres Landes aktiver Einfluss ausüben?
L.M.S.: Die Kommunalwahlen im November dieses Jahres [2020] haben gezeigt, dass viele Brasilianer gegenüber den Wahlen von 2018, als viele Neueinsteiger gewählt wurden, reagiert und die Kriterien geändert haben, mit denen sie Politiker auswählen. Bei diesen Wahlen konnten wir einige Tendenzen feststellen: Es wurden mehr traditionelle Politiker gewählt, die von Bolsonaro unterstützten Kandidaten erzielten schlechte Ergebnisse, aber auch die PT ging als einer der großen Verlierer aus diesen Wahlen hervor. Dies zeigt, dass die brasilianische Wählerschaft bereit ist, sich von diesem einfachen Polaritätsschema zu lösen.
Ich setze sehr auf die Bildung einer neuen politischen Gruppe, geführt von sachkundigen Menschen, die sich um soziale Eingliederung und ein pluralistischeres Brasilien bemühen.
DWIH SP: Wie war es für Sie, für Falling Walls – Breakthroughs of the Year nominiert zu werden und zudem noch das große Finale zu erreichen?
L.M.S.: Es war eine große Freude. Ich war sehr glücklich – eine der Finalisten zu sein, war schon ein großer Sieg. Ich hatte nie etwas über diesen Preis gehört, alles war sehr gut organisiert, das gesamte Verfahren sehr ethisch, korrekt und demokratisch.
DWIH SP: Welche Bedeutung hat diese Art von Auszeichnung/Veranstaltung für die Verbreitung wissenschaftlicher Arbeiten in der Gesellschaft?
L.M.S.: Ich kann diese Frage noch nicht sehr konkret beantworten, aber ich kann mir vorstellen, dass wir Brasilianer, wenn wir häufiger an diesem Wettbewerb teilnehmen, auch größere Chancen haben, in einigen der Kategorien zu gewinnen und brasilianische Arbeiten im internationalen Kontext bekannt zu machen.
Es ist eine großartige Initiative. Ich bin sehr stolz und dankbar über diese Nominierung. Vielleicht gibt es ja im nächsten Jahr weitere brasilianische Kandidaten, die das Finale von Breakthroughs of the Year erreichen.