Wie können wir heute unter wirtschaftlichen und klimatischen Gesichtspunkten die Zukunft von Großstädten planen
Im gemeinsam vom DWIH und von der FAPESP organisierten Online Talk on Cities and Climate zeigten Wissenschaftler aus Brasilien und Deutschland anhand konkreter Fälle, wie sich die durch den Klimawandel verursachten Veränderungen auf Großstädte auswirken.
Verantwortung der lokalen Regierungen, Partnerschaften mit Kommunen und die Rolle jedes Einzelnen innerhalb des Ökosystems zur Verhinderung von noch drastischeren Klimaveränderungen in den Großstädten – all diese Themen wurden im Rahmen des ersten DWIH-FAPESP Online Talk on Cities and Climate am 19. November 2020 erörtert.
Fachleute aus Brasilien und Deutschland diskutierten anhand konkreter Fälle, wie sich die Folgen des Klimawandels in sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Hinsicht auf Großstädte auswirken. Auf der Veranstaltung wurden zudem einige neue wissenschaftliche Erkenntnisse für die Entwicklung von zukünftig intelligenteren und widerstandsfähigeren Städten präsentiert.
Professor Marcos Buckeridge, Leiter des Biowissenschaftlichen Instituts der Universität São Paulo (USP), stellte das Konzept des „Urbsystems” vor: „Das Urbsystem ist ein spezielles Ökosystem, in dem Materialien verbraucht und verarbeitet werden, die von außerhalb in die Stadt kommen, z. B. Lebensmittel, importierte Produkte und Rohstoffe. Und dieser ganze Prozess produziert Abfall”, erklärte der Wissenschaftler. Der Nachhaltigkeitsgrad des Urbsystems sei umgekehrt proportional zu den Mengen an Wasser und Energie, die zur Verarbeitung dieser Materialien verwendet werden.
Buckeridge zeigte auf, dass ein Urbsystem umso nachhaltiger wird, je mehr Abfälle bei der Verarbeitung dieser Materialien recycelt werden, bis kaum noch Abfälle übrig bleiben oder dieser Wert im Idealfall auf Null sinkt. Damit dies geschehen könne, so der Wissenschaftler, sei es erforderlich, dass den Bürgern bewusst ist, woher die von ihnen konsumierten Lebensmittel stammen, und dass sie von den Unternehmen nachhaltigere Produkte verlangen. Er unterstrich auch die Rolle der Wissenschaft bei der Sensibilisierung und Formulierung einer nachhaltigen Politik. „Eine auf Wissenschaft basierende öffentliche Politik ist der Schlüssel für den Umgang mit den Folgen des Klimawandels”, betonte der USP-Professor.
Anwachsen der Stadtbevölkerung
Sabine Schlacke, Professorin für öffentliches Recht und Umweltrecht an der Universität Münster (WWU), vertrat bei der Veranstaltung den Standpunkt, dass man die Klimaauswirkungen aus der Perspektive der Städte betrachten müsse. Wie die Wissenschaftlerin weiter ausführte, erwarte man, dass die Stadtbevölkerung bis 2050 auf 7 Milliarden Menschen anwachsen werde, was zwei Dritteln der Weltbevölkerung entspräche. „Dieses Bevölkerungswachstum wird eine Reihe von Problemen mit sich bringen, insbesondere in Bezug auf Aspekte des Klimawandels”, betonte Schlacke.
Der Professorin zufolge sind Stadtregionen bereits heute für 70% des Energieverbrauchs und der damit verbundenen Schadstoffemissionen verantwortlich. „Wir müssen begreifen, dass Städte gleichzeitig Verursacher und Opfer des Klimawandels sind.” In diesem Sinne verteidigt Schlacke eine härtere und explizitere Politik zur Veränderung des aktuellen Klimawandelszenarios in der Welt, wie den folgenden Maßnahmenkatalog des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung für Globale Umweltveränderungen (WBGU), in dem sie als Vizepräsidentin fungiert:
- Begrenzung des Energiebedarfs, um die globale Energiewende zu ermöglichen;
- Keine direkten CO2-Emissionen mehr;
- Zugang zur Energie für alle Menschen garantieren;
- Verwenden von nachhaltigen Technologien und Materialien;
- Entwicklung nachhaltigerer Gebäude mit besserer Energieeffizienz;
- Neue Standards für die städtische Infrastruktur festlegen;
- Schaffung urbaner Mobilität, bei der die Menschen, nicht die Autos im Mittelpunkt stehen.
Gemeinsame Entwicklung nachhaltigerer Modelle
Nach Ansicht von Nico Caltabiano, Projektmanager am Max-Planck-Institut für Meteorologie (MPI-M) in Hamburg, führt der Weg zur Lösung von Klimaproblemen über einen intensiven Dialog zwischen öffentlichen und privaten Institutionen sowie Vertretern der Bevölkerung. „Die Ortskenntnis der Bevölkerung ist der Schlüssel zu nachhaltigen Lösungen, und öffentliche Einrichtungen sind verpflichtet, der lokalen Bevölkerung zuzuhören und sie bei ihren Entscheidungen einzubeziehen”, betont der Forscher.
Der Brasilianer leitet das Klimapolis Labor, eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte deutsche Initiative, die mit neuen Ansätzen zur Entwicklung nachhaltiger Städte in Brasilien und Deutschland arbeitet. „Wir wollen gemeinsam mit Regierungen, Institutionen und Gemeinden bessere Vorgehensweisen und Regierungsstrukturen für nachhaltigere Städte entwickeln. Unsere Idee ist eine nachhaltige interdisziplinäre Umwandlung, bei der die Realität der Straßen genutzt wird, um die besten Erkenntnisse für Ballungsräume zu gewinnen”, stellte er klar.
In diesem Sinne präsentierte der Wissenschaftler während des Online-Seminars eine gemeinsam von Klimapolis und der Universität São Judas (USJT) durchgeführte Initiative in Itaim Paulista, einem Stadtteil der Metropole São Paulo. Weit entfernt vom Stadtzentrum leidet die Bevölkerung unter einer schwachen Infrastruktur, insbesondere im Hinblick auf den Ablauf des Regenwassers. Die Region wird von drei Bächen durchzogen, die in den Fluss Tietê münden (Itaim, Tijuco Preto und Três Pontes). Wenn es in São Paulo intensiv regnet, kommt es in der Region häufig zu Überschwemmungen.
„Mit dieser Arbeit wollen wir mehr über die Probleme in dieser Region erfahren, besonders, was die Besiedlung der Bachufer, die Auswirkungen der Überschwemmungen und die Probleme im Zusammenhang mit der Luftverschmutzung betrifft”, erklärt der Wissenschaftler.
Aufteilung der Zuständigkeiten
Ideen und Zuständigkeiten für nachhaltigere Städte müssen geteilt werden. Dies ist der Tenor der Studie „Die Herausforderung des Umgangs mit dem Klimawandels in Brasilien: eine Analyse auf mehreren Ebenen und mit mehreren Akteuren (im Fall des Bundeslandes São Paulo)” über die brasilianische Politik im Hinblick auf die im Pariser Abkommen vorgesehenen Maßnahmen zur Reduzierung von Schadstoffen.
Die von Prof. Leila Costa von der Universität Campinas (Unicamp) koordinierte und von ihr während des Seminars vorgestellte Studie zielt darauf ab, die Verantwortung der verschiedenen Akteure in der brasilianischen Politik und im Wirtschaftssektor bei der Durchführung von Maßnahmen gegen den Klimawandel zu beobachten, insbesondere in Städten, in denen 85% der Bevölkerung leben. „Wir haben die sozial-klimatische Verwundbarkeit in brasilianischen Großstädten und den Rahmen für die Ausrichtung an diese Verwundbarkeit auf verschiedenen Ebenen analysiert“, erklärte Costa.
Unterstützt vom FAPESP-Forschungsprogramm zum globalen Klimawandel analysierte die Studie die Klimapolitik in fünf Großstädten des Bundeslandes São Paulo: Campinas, São José dos Campos, Santos, Sorocaba und Ribeirão Preto.
Für die Wissenschaftlerin bestand der Hauptbeitrag der Forschung darin, zu zeigen, wie brasilianische Städte auf internationale Bewegungen zur Abmilderung von Problemen im Zusammenhang mit dem Klimawandel reagieren. „Die in der Studie durchgeführte Analyse ist ein innovativer Ansatz, der dazu beiträgt, Lücken im Verständnis des Themas in Brasilien zu schließen“, glaubt die Forscherin, die Unicamp bei WUN Global Challenges/ Adaptating to climate change vertritt.
Der DWIH-FAPESP-Online-Talk on Cities and Climate war eine Art Vorschau auf die neunte Ausgabe des Deutsch-Brasilianischen Dialogs über Wissenschaft, Forschung und Innovation, der normalerweise jährlich von den beiden Institutionen organisiert wird, aber in diesem Jahr aufgrund der Covid-19-Pandemie auf Mai 2021 verschoben wurde.
Die Veranstaltung wurde von der auf humanitäre und Umweltfragen spezialisierten Journalistin Cilene Victor moderiert und vom Koordinator des DWIH São Paulo, Marcio Weichert, präsentiert. Der Leiter des DAAD Brasil und des DWIH São Paulo, Jochen Hellmann, und der wissenschaftliche Direktor von FAPESP, Luiz Eugênio Araújo de Morais Mello, nahmen ebenfalls an der Eröffnung der Veranstaltung teil.
Alle Beiträge von DWIH-FAPESP Online Talk on Cities and Climate können auch auf YouTube DWIH São Paulo angesehen werden.