Unter Druck
Zur Lage von Hochschulen und Bildung in Brasilien
JOCHEN HELLMANN
Das größte Land Südamerikas wird derzeit von einer dreifachen Krise heimgesucht: Der gesundheitlichen, der politischen und der ökonomischen. Alle drei Krisen haben dabei Auswirkungen auf die Bildung und Wissenschaft im Land. Zunächst: Brasilien wurde, wie fast ganz Südamerika, von der Coronapandemie besonders hart getroffen. Noch immer fordert die Pandemie täglich, mit allerdings sinkender Tendenz, fast 800 Tote, knapp ein Drittel verglichen mit dem Höhepunkt der zweiten Welle im April. Der Rückgang hängt dabei vornehmlich an der Zunahme der Impfungen: In großen Bundesstaaten wie São Paulo konnten sich mittlerweile fast alle Erwachsenen zumindest einmal impfen lassen. Dies ist insbesondere für den derzeitigen Winter auf der Südhalbkugel wichtig, der in der Mitte und im Süden Brasiliens niedrige Temperaturen bringt und die Verbreitung des Virus befördert.
Normalität trotz hoher Todeszahlen
Die von Wissenschaft und Medien zu Beginn der Pandemie verbreitete dringende Empfehlung, zu Hause zu bleiben – »Fique em casa!« – wird hingegen von immer weniger Menschen beherzigt. Es ist eine Gewöhnung eingetreten und das Land schaltet trotz hoher Infektions- und Todeszahlen von Woche zu Woche mehr in eine Art Normalität. Viele Brasilianerinnen und Brasilianer haben zudem den Eindruck, dass der Rat, zu Hause zu bleiben, nur von einer privilegierten »Homeoffice-Bourgeoisie« umgesetzt werden kann. Die Mehrheit der Menschen kann nicht zu Hause arbeiten und ist auf die Benutzung des notorisch überfüllten öffentlichen Nahverkehrs angewiesen.
Untersuchungskommission setzt Regierung unter Druck
Auch Brasiliens Regierung unter Präsident Jair Bolsonaro steht derzeit unter Druck: Sie ist ohne Mehrheit im Parlament, wird von der kritischen Presse scharf unter Beschuss genommen und durch die unabhängige Justiz zusätzlich in vielen ihrer Manöver bedrängt. So werden beispielsweise die zahlreichen Fehler, die seit Beginn der Pandemie zu einer Verschärfung der Lage beigetragen haben, in einer parlamentarischen Untersuchungskommission akribisch aufgearbeitet. Mehrere große TV-Kanäle senden die Beratungen live und die Bevölkerung kann Zeugen zuhören, die aussagen, dass die Impfstoff-Bestellung zu spät erfolgte, wirkungslose Hokuspokus-Medikamente propagiert wurden und inkompetente Personen im Gesundheitsministerium lange Zeit den Ton angaben. Die Coronapandemie befeuerte zudem die dritte, die ökonomische Krise, die bereits seit mehreren Jahren grassiert und die Regierung zu Einsparungen und Kürzung zwingt. Die Rezession hatte 2015 begonnen. Ihr folgten einige Jahre mit magerem Wachstum und hoher Arbeitslosigkeit. Als viele Experten gerade einen Aufwärtstrend prognostizierten, machte die Pandemie die neue Hoffnung zunichte: Im Jahr 2020 schrumpfte die Wirtschaft wieder um mehr als vier Prozent.
Die Krisen schlagen auf Bildung und Hochschulen durch
Alle drei Krisen wirken auch auf das Bildungswesen Brasiliens: Zwei Millionen Kinder in unterentwickelten ländlichen Gebieten des Landes haben seit Beginn der Pandemie praktisch keinen Unterricht erhalten. Fast die Hälfte der Haushalte in diesen Regionen hat keinen Internetzugang; auch in urbaner Umgebung fehlt einem Viertel der Familien die notwendigen Geräte oder Netzanbindung. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehen somit mit großer Sorge das Heranwachsen einer Teil-Generation von Halb-Analphabeten, der fast jede Chance auf einen Bildungsaufstieg verbaut sein wird. Auch die Hochschulen im Land sind nur schleppend in die digitale Fernlehre eingestiegen und berichten von zahlreichen Studienabbrüchen. Eine aktuelle Studie sieht rund 61 Prozent pandemiebedingte Abbrüche insbesondere bei den privaten Hochschulen. Zudem verschärft der »Digital Divide« die ohnehin große Ungleichheit in der brasilianischen Gesellschaft, in der – vereinfacht gesagt – die Kinder der Mittelklasse recht problemlos, die der benachteiligten Unterschichten jedoch nur schwer mit den digitalen Lernformaten zurechtkommen. Zu spät wurde das Problem erkannt und zu schwerfällig sind die Versuche, durch Fördermaßnahmen gegenzusteuern.
Budgetkürzungen und drohender Braindrain
Auch die Budgets der Hochschulen sind von den Krisen betroffen: Zwar investiert das Land eigentlich mit rund vier Prozent einen recht hohen Anteil seines Haushalts in Hochschulbildung, gleichzeitig sind gerade die Bundes- Universitäten stark von Kürzungen betroffen. Oftmals wissen sie kaum, wie sie die Kosten für den Routinebetrieb in der zweiten Jahreshälfte aufbringen sollen. Dies führt unter anderem dazu, dass viele junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Zukunftssorgen haben: Denn die Hochschulbudgets werden auf absehbare Zeit schrumpfen und die Zentralregierung ist einigen Fachgebieten wie etwa den Geistes- und Sozialwissenschaften gegenüber nicht wohlgesonnen. Dies macht die Karriereplanung für junge Talente gerade in den betreff enden Fächern sehr schwierig. Inzwischen denken viele von ihnen darüber nach, ihre berufliche Entwicklung in Europa oder Nordamerika voranzutreiben. Doch auch hier stehen sie durch die stark eingeschränkte Mobilität während der Pandemie vor großen Herausforderungen, oftmals entsteht daraus Resignation und Ratlosigkeit. Darüber hinaus versucht die Zentralregierung derzeit – zum Teil erfolgreich – in die Autonomie der Bundes-Universitäten einzugreifen. Insbesondere bei der Besetzung der Rektorate mit Personen, die nicht in jedem Fall die Mehrheit der Stimmen in den Uni-internen Wahlen errungen hatten, der Regierung aber als pflegeleichtererscheinen. Die Universitäten verwahren sich gegen eine solche Praxis, können dies aber nicht immer verhindern.
Trotz all dieser beunruhigenden Entwicklungen: Brasilien ist weiterhin ein Land mit einem hoch entwickelten Bildungssektor und in Teilen mit auf europäischem Niveau forschenden und lehrenden Universitäten. Die Hochschulen im Land wehren sich mit ihren Mitteln bestmöglich gegen die Einschränkung ihrer Autonomie und leisten trotz der nicht einfachen Situation überwiegend hervorragende Arbeit. Die Kooperation mit brasilianischen Universitäten ist für deutsche Hochschulen auch unter den aktuellen Rahmenbedingungen vielversprechend und erweist sich in vielen Fällen als ausgesprochen fruchtbar.
Jochen Hellmann ist Leiter der DAAD-Außenstelle Brasilien mit Sitz in Rio de Janeiro und Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses in São Paulo.
Quelle: Politik und Kultur
Stand: 1. September 2021