Hellmann: Kann die deutsche Nachkriegserfahrung als Beispiel für andere Länder dienen?
Jochen Hellmann, Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) São Paulo und Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Brasilien, griff bei seinem Vortrag während der vom DWIH São Paulo im Rahmen der 75. Jahrestagung der Brasilianischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft (SBPC) organisierten Podiumsdiskussion eine Anregung des SBPC–Präsidenten Renato Janine Ribeiro auf: Kann die deutsche Erfahrung, nach dem Zweiten Weltkrieg die durch den Nationalsozialismus verursachten Traumata anzuerkennen und aufzuarbeiten, als Beispiel für andere Länder dienen?
Bei dem Versuch, diese Frage zu beantworten, skizzierte Hellmann die Geschichte des deutschen Bildungssystems vom 19. Jahrhundert bis zur Einführung des DAAD und seinen Aktivitäten während der Nazi-Regierung (1933-1945). In dieser Zeit, so der Experte, sei der Bildung in Deutschland eine Hierarchie aufgezwungen worden, die jeder fortschrittlicheren Pädagogik widerspreche – die Aufgabe der Lehrer sei dabei eher gewesen, „ein Rudel anzuführen”.
„Ein Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie war der Glaube an eine Kultur der strikten hierarchischen Führung – das sogenannte Führerprinzip. Diesem Prinzip zufolge sollte es auf allen Ebenen der Gesellschaft Führer geben, denen jeder bedingungslos folgen sollte. Es handelte sich um eine sehr primitive Form des ,Leithammels’, die der Natur entlehnt war. (…) Sie können sich vorstellen, dass dieses Führerprinzip alle humanistischen Ansätze in der Didaktik und Pädagogik zerstört. Von diesem Moment an war nicht mehr die Rede von gleichberechtigtem Lernen, der Teilhabe an einem Erkenntnisprozess, oder einer auf der Debatte zwischen Menschen aufbauenden Lernkultur, in der alle gemeinsam und gleichberechtigt lernen”, erläuterte Hellmann.
Mit dem Kriegsende und dem damit verbundenen Sturz des Regimes habe in den besetzten Ländern Deutschlands ein Entnazifizierungsprozess der Bevölkerung begonnen. „Die Alliierten [USA, Frankreich, Großbritannien und die Sowjetunion] haben gute Arbeit geleistet und dabei teilweise drastische Maßnahmen ergriffen: zum Beispiel wurde die Bevölkerung in mehreren Städten, in denen es Konzentrationslager gab, sowie in Orten, in denen Menschen vermisst wurden, nach 1945 gezwungen, diese Lager zu besuchen. Sie haben es nicht aus freien Stücken getan. Es war eine sehr schwierige Zeit: Es gab nichts zu essen, die Häuser waren von den Bombenangriffen zerstört oder beschädigt, aber die Menschen wurden gezwungen, die Konzentrationslager zu besichtigen, damit sie vor Ort sehen konnten, was dort passiert war und nicht sagen, sie hätten von alldem nichts gewusst”, erzählte Hellmann. „Diese Angst der Alliierten war begründet“.
Das Land sei jedoch unter den Alliierten selbst aufgeteilt worden. Der östliche Teil habe weitere 40 Jahre lang unter einer Diktatur gelebt – Deutschland sei erst 1990 wiedervereinigt worden, und die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland hätten weiterhin bestanden. Die Deutschen hätten also, so Hellmann, Erfahrungen mit zwei Diktaturen hinter sich (wobei natürlich klare Unterschiede zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus bestünden).
Vor diesem Hintergrund stellte der DAAD-Direktor eine Frage und eine These zum Nachdenken in den Raum. „Bedeutet die Tatsache, dass wir Deutschen diese beiden Diktaturen in so kurzer Zeit durchlebt und überwunden haben, wirklich, dass wir jetzt dagegen immun sind, weil wir bereits diese Erfahrungen hinter uns haben? Ich habe darauf keine Antwort. Aber ich wage eine These: Ich glaube, dass die freie Wissenschaft eine absolut notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, zum Schutz einer offenen Gesellschaft ist. Ohne eine freie Wissenschaft ist eine offene Gesellschaft nicht möglich, aber nur die Tatsache, dass wir freie Wissenschaft haben, garantiert uns keinen vollständigen Schutz.“
Hellmanns Vortrag war ein Beitrag zur Podiumsdiskussion „Die Rolle von Bildung und Wissenschaft bei der Überwindung von Vorurteilen und Hass in Deutschland und Brasilien“, die am 25. Juli vom DWIH São Paulo im Rahmen der SBPC-Jahrestagung an der Bundesuniversität Paraná (UFPR) in Curitiba veranstaltet wurde. Weitere Diskussionsteilnehmer waren: Monika Oberle, Professorin für Politikwissenschaft und Didaktik der Politik an der Georg-August-Universität Göttingen und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) und Michel Gherman, Professor des Graduiertenprogramms für Sozialgeschichte an der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ). Das Gespräch fand unter der Leitung des SBPC-Vizepräsidenten Paulo Artaxo statt.