Monika Oberle: Politische Bildung bedeutet nicht Neutralität
Es sei wichtig, Bedingungen zu schaffen, unter denen Schüler ihre politischen Kompetenzen entwickeln können. Dies bedeute aber nicht, dass politische Bildung neutral sein müsse – es gebe Grundlagen, auf denen man aufbauen könne. Dies war der zentrale Aspekt des Vortrags von Monika Oberle, Professorin für Politikwissenschaft und Didaktik der Politik an der Georg-August-Universität Göttingen, bei der vom Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) São Paulo im Rahmen der 75. Jahrestagung der Brasilianischen Gesellschaft für den Fortschritt der Wissenschaft (SBPC) veranstalteten Podiumsdiskussion „Die Rolle von Bildung und Wissenschaft bei der Überwindung von Vorurteilen und Hass in Deutschland und Brasilien”.
In Deutschland, so Oberle, gebe es in einigen Bundesländern das Fach „Politische Bildung”, dessen Aufnahme in die Lehrpläne über die jeweiligen Landesverfassungen erfolgt sei. Es orientiere sich an den Prinzipien des Beutelsbach-Konsenses, der 1976 als Reaktion auf die damalige Diskussion darüber definiert wurde, wie schulpolitische Bildung im Land durchgeführt werden sollte. In diesem Konsens wurde festgelegt, dass es verboten ist, Studierende parteipolitisch zu indoktrinieren, dass kontroverse Punkte diskutiert werden müssen (ohne dabei befriedete Punkte zu leugnen) und dass den Studierenden Bedingungen gegeben werden müssen, Politik aus der Sichtweise ihrer eigenen Interessen zu analysieren.
Allerdings werde der Konsens oft fälschlicherweise als „Verpflichtung zur Neutralität” angesehen. Oberle erklärte, dass man sich beispielsweise gegenüber antidemokratischen Positionen nicht neutral verhalten dürfe, und dass Lehrkräfte nicht unpolitisch, sondern als Vorbilder für demokratische Bürger dienen sollten.
„Ich habe sogar erfahren, dass Sie hier in Brasilien aufgrund dieses falschen Verständnisses etwas ganz Ähnliches erlebt haben, dass es 2016 eine Bewegung gab, die gesetzlich festlegen wollte, dass man in der Schule nicht über Politik sprechen darf [was als ,Parteilose Schule’ bekannt wurde]. Solche Strömungen gibt es in Deutschland auch, aber was viele nicht erkennen, ist, dass Rechtsextremisten versuchen, diesen Punkt auszunutzen. Und so fangen die Lehrer an zu denken, dass man nicht über Politik reden darf, dass man neutral sein muss und keine Fragen zur Umwelt-, Klima- oder Religionspolitik diskutieren sollte. Plötzlich haben sie Angst, ihre Meinung nicht artikulieren zu können“, sagte Oberle.
Ziele der politischen Bildung
Laut Oberle, die auch Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) ist, verfolge politische Bildung zwei Hauptziele: eine intellektuelle Mündigkeit zu entwickeln und zur Ausarbeitung politischer Kompetenzen beizutragen (im Hinblick auf Denkweise, Verhalten und Motivation sowie bei der Entscheidungsfindung). Allerdings würden diese Ziele nicht ohne Spannung erreicht.
„Es gibt ein Spannungsverhältnis in den Schulen. Einerseits wollen wir, dass junge Menschen mündig werden – das heißt, dass sie selbstständig ein Urteil bilden können, aber wir wollen auch, dass sie Demokraten sind. Und es gibt natürlich schlaue Menschen, die selbstständig ein Urteil fällen und Faschisten sind. Es ist ja nicht so, dass Wissen automatisch zu guten Demokraten führt. Wir müssen ehrlich sein: Wir wollen Autonomie, wir wollen, dass die Menschen Zivilcourage haben, aber wir wollen sie auch dazu bringen, dass sie Demokraten sind”, bekräftigte die Professorin.
Oberle wies auf drei Säulen der demokratischen Erziehung an deutschen Schulen hin, die ihrer Meinung nach auch für Brasilien als Basis dienen können: eine demokratiebasierte Schulkultur, ein interdisziplinäres pädagogisches Konzept und „Politische Bildung” als Sonderfach an den Schulen. „Die Aufgabe dieses Fachs besteht darin, über Konzepte wie Demokratie zu sprechen – nicht nur über Toleranz und gemeinsam gut Leben, sondern auch darüber, was rechtsstaatliche Demokratie bedeutet. Es geht mir nicht nur darum, Wissen und Institutionenkunde zu vermitteln, sondern auch Diskussionen zu moderieren, Kommentare zu bewerten und kritisch zu reflektieren”, betonte die Professorin.
Die Podiumsdiskussion des DWIH São Paulo fand am 25. Juli während der SBPC-Jahrestagung an der Bundesuniversität Paraná (UFPR) in Curitiba statt. Weitere Teilnehmer waren Michel Gherman, Professor des Graduiertenprogramms für Sozialgeschichte an der Bundesuniversität Rio de Janeiro (UFRJ) und Jochen Hellmann, Direktor des Deutschen Wissenschafts- und Innovationshauses (DWIH) São Paulo und Leiter des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) in Brasilien. Das Gespräch fand unter der Leitung des SBPC-Vizepräsidenten Paulo Artaxo statt.