Brasilianischer DAAD-Preisträger: Autoritäre Kräfte nutzen Bildung zur Unterwanderung politischer Systeme
Der brasilianische Forscher Fernando Romani Sales, Koautor einer Studie zu den Auswirkungen der Aushöhlung der Demokratie in der schulischen Grund- und in der Hochschulbildung, belegte im Rahmen des Fundamental Academic Values Awards 2024 den dritten Platz. Der vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) vergebene und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) finanzierte Preis zeichnet Forschungsarbeiten aus, die einen Bezug zu akademischen Grundwerten aufweisen. Die Preisverleihung fand am 10. Dezember statt.
Sales promoviert im Bereich Verfassungsrecht an der Universität São Paulo (USP) und ist am Zentrum für Analyse von Freiheit und Autoritarismus (Centro de Análise da Liberdade e do Autoritarismo – LAUT) angesiedelt. Er stand dem Deutschen Wissenschafts- und Innovationshaus (DWIH) und dem DAAD Brasilien für ein E-Mail-Interview zur Verfügung. Im Gespräch erläuterte er, dass der Bereich Bildung sowie der zivilgesellschaftliche Raum und die öffentliche Sicherheit die drei Hauptfelder sind, die von autoritären Kräften und ihren Strategien zur Zerstörung politischer Systeme angegriffen werden.
Er wies darauf hin, dass die „Autokratisierung“ ein weltweites Phänomen ist. „Je nach Kontext gibt es entsprechende Besonderheiten, aber auch bestimmte Merkmale und Tendenzen, die gewissermaßen die Prozesse zur Aushöhlung der Demokratie vereinheitlichen“, so Sales. Die Forschungsarbeit wurde in der Publikation „O Caminho da Autocracia“ des Verlags Tinta da China auf Portugiesisch veröffentlicht.
Lesen Sie hier das nachfolgende Interview:
Was sind die größten Bedrohungen für die brasilianische Hochschulbildung in Ihrem Forschungskontext?
Das hat die Amtsführung von fünf demokratisch gewählten Regierungschefs verglichen, die autoritäre Tendenzen aufweisen. Aufgefallen ist dabei, dass diese Regierungen die gleichen Strategien zur Schwächung der jeweiligen politischen Systeme verwenden. Dies ist insbesondere in drei öffentlichen Bereichen der Fall: in der Bildung, dem zivilgesellschaftlichen Raum und in der öffentlichen Sicherheit. Die Studie war das Ergebnis einer gemeinsamen Forschungsarbeit, an der ich als Autor beteiligt bin und ich habe mich hauptsächlich damit beschäftigt, vergleichend die gemeinsamen Strategien für den Angriff auf die Bildung in fünf Ländern zu analysieren. In diesem Bereich machen sich die Autokraten vier grundlegende Strategien für die Unterwanderung der Demokratisierung in der öffentlichen Bildung zunutze: politisch-ideologische Kontrolle, historisch-wissenschaftlicher Revisionismus, Einmischungen in der Autonomie der Hochschulen sowie Angriffe auf die individuelle Freiheit von Akademikern.
In den untersuchten Ländern war bei der Wiederwahl von Regierungschefs mit autoritären Tendenzen zu beobachten, dass keine demokratische Normalisierung erfolgt ist, sondern dass sich der „Autokratisierungsprozess“ weiter fortgesetzt hat. Brasilien ist hierbei als ein Beispiel zu nennen, wo dieser Fall nicht eingetreten ist, denn Jair Bolsonaro wurde nicht wiedergewählt. Trotzdem ist der Rechtskonservatismus hier weiterhin eine starke politische Kraft von großer Relevanz, sodass demokratische Akteure und Kräfte Überlegungen hinsichtlich Strategien zur Eindämmung von autoritärem Extremismus anstellen und diese auch umsetzen müssen.
In der Studie wurden auch andere Länder analysiert. Welche besonders auffälligen Tendenzen waren dabei zu beobachten?
Neben Brasilien schauten wir uns noch Ungarn, Polen, die Türkei und Indien an. In diesen Ländern wurden von den jeweiligen Regierungen im Bereich des zivilgesellschaftlichen Raums gleiche Strategien zur Unterwanderung der Demokratie angewendet: Dirigismus und Regulierungskontrolle mittels staatlicher Unterstützung und der Begünstigung von Agenden sowie Überwachung und Angriffe auf die bürgerliche Freiheit durch Taktiken wie Feindbild- und Verschwörungsrhetorik, die Nutzung von Spionagesoftware etc. In der öffentlichen Sicherheit waren neben Populismus in der Strafverfolgung und moralischer Panik die beiden hauptsächlich angewendeten Strategien die Überwachung und Verletzungen der Privatsphäre.
Nehmen wir einmal Europa in den Blick: Wie lautet Ihre Einschätzung bezüglich Akteuren mit autoritären Tendenzen in Ländern wie Deutschland? Welchen Einfluss haben lokale Faktoren auf den Aufstieg solcher Kräfte?
Der aktuelle Prozess der „Autokratisierung“ demokratischer Systeme ist ein globales Phänomen. In Bezug auf Deutschland ist die AfD sicherlich der Hauptvertreter dafür und die Partei hat bereits wichtige Erfolge auf regionaler Ebene verzeichnet. Je nach Kontext gibt es entsprechende Besonderheiten, aber auch bestimmte Merkmale und Tendenzen, die gewissermaßen die Prozesse zur Aushöhlung der Demokratie vereinheitlichen. Dazu gehören unter anderem auch das Verweigern grundlegender Versprechen wie zum Beispiel, dass durch Demokratie Ungleichheiten bekämpft und ein Minimum an materieller Lebensqualität garantiert werden können.
Ein weiteres Merkmal ist die Übertragung der Verantwortung für Primärgüter vom Staat auf den privaten Sektor. Wenn dieser dann zum Beispiel für Gesundheitswesen, Bildung oder Vorsorge zuständig ist, rückt das Ideal der Leistungsgesellschaft in den Mittelpunkt sozialer und wirtschaftlicher Logik. Und das führt wiederum zusammen mit anderen Faktoren zu Wirtschaftskrisen und zu mehr sozialer Ungleichheit.
Und schließlich existiert außerdem noch die vereinfachte und falsche Rhetorik der Schuldzuweisung durch Feindbilder. Für jeden der Bereiche der Aushöhlung der Demokratie suchen sich diese „autokratischen“ Kräfte eine soziale Gruppierung aus und stellen diese dann als „Staatsfeinde“ dar, die für soziale, wirtschaftliche und politische Probleme verantwortlich gemacht werden. In Westeuropa wird das Problem der Masseneinwanderung pauschal als Grund für Arbeitslosigkeit, Immobilienblasen, Geringschätzung von Kultur und Traditionen und so weiter angegeben.
Welche Bedeutung hat diese Auszeichnung für Ihre akademische Laufbahn?
Ich war überrascht und habe mich sehr über den dritten Platz bei dem Fundamental Academic Values Award 2024 gefreut. Für mich persönlich ist es eine Anerkennung und ein Ansporn für die Weiterführung meiner Forschungsarbeit und meiner Rolle als Verteidiger von Demokratie und Menschenrechten. Kollektiv gesehen – und das ist für mich sogar wichtiger als die persönliche Sichtweise – verstehe ich Initiativen wie diese des DAAD zur Anerkennung und Auszeichnung wissenschaftlicher Leistungen, die sich mit der Qualität von Bildung und Demokratie auseinandersetzen, als politische Statements für die Gesellschaft, die die Bedeutung von Wissenschaftsförderung und -entwicklung unterstreichen.
Für mich sind Bildung, Forschung und wissenschaftlicher Fortschritt untrennbar mit jeglichem Demokratieverständnis verbunden. Ich kann mir kein demokratisches System vorstellen, das weder Bildung noch Forschung stärkt. Ich freue mich sehr und hoffe, dass der DAAD und andere Förderinstitutionen für Bildung und Forschung weiterhin Initiativen wie diese unterstützen.
Text: Rafael Targino in Zusammenarbeit mit Fabíola Gerbase