Eine neue Populismuswelle legt die Anfälligkeit der Demokratie offen
Populismus und Demokratie stehen im Rampenlicht der heutigen Zeit – nicht nur in Brasilien, sondern auch in Deutschland und Europa. Auf Einladung der Deutschen Botschaft in Brasília kam Prof. Dr. Wolfgang Merkel, Spezialist auf diesem Gebiet, nach Brasilien und sprach dabei auch mit dem DWIH São Paulo.
Unter dem Titel Demokratieforum Europa-Brasilien organisiert die Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Brasília zum Thema: Zukunft von Demokratie und Rechtstaat eine Reihe von Konferenzen und Vorträgen, die im Verlauf dieses Jahres in verschiedenen brasilianischen Städten stattfinden werden. Neben dem speziellen Interesse an der Diskussion über die politische Reform in Brasilien gilt die Besorgnis auch den Entwicklungen in Deutschland und Europa.
Die ersten Debatten dieser Reihe, die im März begannen, konzentrierten sich auf das Thema: Populismus und Krise der Demokratie. In diesem Rahmen fanden Veranstaltungen in São Paulo (14. und 15.März), Rio de Janeiro (14. März), Brasília (18. März und Porto Alegre (21. März) statt, zu denen die deutschen Professoren Jan-Werner Müller (Princeton University) und Wolfgang Merkel (WZB Berlin Social Science Center) eingeladen wurden, um über das erneute Aufflammen von Fremdenhass und Nationalismus in Europa zu sprechen.
Die beiden Veranstaltungen in São Paulo – „What’s populism?” und „Populism and Democracy: Threat or Corrective” – wurden gemeinsam von der Cátedra von Martius für deutsche und europäische Studien (DAAD-USP) und der Deutschen Botschaft in Brasilia mit Unterstützung des Fachbereichs für Politikwissenschaften der USP und der Stiftung Fernando Henrique Cardoso organisiert.
Sehen sie hier das Jahresprogramm des Demokratieforums Europa-Brasilien.
In wenigen Worten: was ist Populismus und wie kann er unsere freiheitliche Demokratie beeinträchtigen?
Populismus kann als ein politisches Konzept verstanden werden, das sich unter anderem auf drei Elemente stützt: Strategie, Ideologie, Stil.
Strategie: Der Populismus verfolgt eine Strategie, die die etablierten politischen Eliten herausfordert. Sie versucht, jene Gruppen der Bevölkerung zu mobilisieren, die sich nicht oder nicht ausreichend gehört, verstanden und repräsentiert fühlen.
Ideologie: Der Populismus basiert laut Cas Mudde, Professor an der Universität von Georgia, auf einer “dünnen Ideologie”, die Mentalitäten und einzelne ideologische Versatzstücke zu einem dichotomen Verständnis des Politischen verschmelzt, das den Kampf von “uns da unten” gegen die korrupten “Eliten da oben” ins Zentrum stellt.
Stil: Der politische Stil unterscheidet sich von jenem der etablierten demokratischen Institutionen vor allem dadurch, dass er mit Tabubrüchen die Medienaufmerksamkeit provoziert.
Der Populismus ist eher ein graduelles als ein absolutes Phänomen. Parteien, Bewegungen oder Politiker sind nicht einfach populistisch oder nicht populistisch, sondern in aller Regel mehr oder weniger populistisch.
Die Frage, inwieweit der Populismus unsere Demokratie herausfordern kann, ist nicht ohne das jeweilige Adjektiv “links” oder “rechts” zu beantworten. Der entscheidende Unterschied besteht darin, was unter Volk verstanden wird, bzw. wie es diskursiv konstruiert und legitimiert wird. Rechtspopulisten haben ein ethnisches, wenn nicht gar völkisches, Verständnis eines homogenen Volkes. Linkspopulisten verstehen das Volk als die “have nots”, die Unterprivilegierten und Ausgebeuteten. Das Volk wird hier also sozioökonomisch konstruiert. Ein ethnisches Verständnis des Volkes ist exkludierend (die Fremden), ein sozioökonomisches Verständnis ist inkludierend (die Marginalisierten). Ersteres ist antidemokratisch, da es das Gleichheitsprinzip der Demokratie verletzt; Letzteres ist nicht zwingend undemokratisch, solange es sich an die konstitutionellen Verfahrensregeln hält. Problematisch bei beiden Arten des Populismus ist die geringe Wertschätzung von intermediären Organisationen wie Parteien, Verbände oder Parlamente.
Warum ist das Thema “Populism and Democracy: Threat or Corrective?” heute so bedeutsam?
Der Populismus, und hier wiederum vor allem der Rechtspopulismus, hat spätestens seit dem Jahr 2000 die Parteienlandschaften und politischen Diskurse verändert. Der Parteienwettbewerb wurde polarisierter, die Diskurse intransigenter. Der (Rechts-)populismus spaltet die europäischen, lateinamerikanischen Gesellschaften, aber auch die US-amerikanische Gesellschaft tendiert dazu, zugewanderte Menschen zu diskriminieren. Parallel dazu etabliert sich ein neuer Nationalismus als Reaktion auf die internationale Kooperation demokratischer Gesellschaften. Dies alles ist eine Bedrohung der repräsentativen Demokratie.
Die Erosionen rechtsstaatlich-demokratischer Elemente von Staat und Gesellschaft in Polen und Ungarn sind exemplarisch. Dort wo der (Rechts-)populismus sich nicht in der Regierung, sondern in der Opposition befindet, kann er als Korrektiv wirken, wenn sich die politischen Eliten und etablierten Parteien darauf besinnen, nicht nur die besser Situierten der Gesellschaft zu repräsentieren, sondern auch die weniger Privilegierten in ihren Interessen und kulturellen Werte in gleichem Maße politisch vertreten.
Demokratie und Populismus sind wichtige Themen nicht nur für die brasilianische Politik, sondern auch für Europa und Deutschland. Warum?
Demokratien sind nichts ewiges. Sie sind verwundbar. Der neue Populismus hat diese Verwundbarkeit erkannt. Er versucht gerade, die liberalen Bestandteile der Demokratie zu schwächen und gibt vor, dieses im Namen des Volkes zu tun.
Bevölkerung X Demokratie – Warum kann unsere Freiheit in Gefahr sein und wie können wir damit umgehen?
Es sind vor allem die Rechte der Minderheiten, die im Namen der “Mehrheit” von Rechtspopulisten bedroht werden. Die Demokraten müssen diesem Treiben der Rechtspopulisten mit guten Argumenten entgegentreten. Sie dürfen das aber nicht mit dem arroganten Gestus der höheren kosmopolitischen Moral und der vermeintlichen Weitsicht der besser Gebildeten tun. Das hilft nur den Rechtspopulisten.
Befindet sich unsere Demokratie zurzeit in der Krise? Wie sieht Ihre Zukunftsprognose für die Demokratie aus?
Krise ist ein großes und leider wenig präzise definiertes Wort. Die Demokratien Westeuropas, aber auch jene der USA, sind nicht von einer existenziellen Krise bedroht. Das ist in Osteuropa und in Lateinamerika anders. Venezuela wurde von rabiaten Linkspopulisten von einer schlechten und korrupten Demokratie in ein noch korrupteres autoritäres Regime verwandelt. Ähnliches gilt für Nicaragua und mit Einschränkungen auch für Ecuador und Bolivien. Lässt Bolsonaro seinen undemokratischen Äußerungen auch entsprechende Taten folgen, ist die brasilianische Demokratie ebenfalls bedroht.
Die liberalen Demokratien werden nicht kollabieren, das Jahr 2020 ist weder 1922 (Italien), 1933 (Deutschland), 1936 (Spanien) noch 1973 (Chile).
Es gilt nach wie vor Sir Winston Churchills Bonmot: “Die Demokratie ist das schlechteste aller politischen Systeme, außer all jenen, die von Zeit zu Zeit immer wieder ausprobiert wurden”.
Sehen Sie im Populismus die einzige Bedrohung für die brasilianische Demokratie?
Nein, die große sozioökonomische Ungleichheit und die geringe innere Sicherheit gegenüber dem alltäglichen und organisierten Verbrechen bleiben eine Bedrohung der Demokratie, insbesondere für die unteren Schichten.
Zum Abschluss des Interviews antwortete Prof. Merkel mit kurzen Sätzen auf einige Stichworte.
- Populismus: Der Populismus ist zu einer Herausforderung für die Demokratie geworden.
- Demokratie: Demokratie ist nicht perfekt, aber sie ist das einzige Regime, das die Selbstregierung der Menschen erlaubt.
- Demokratie versus Populismus: Die etablierten Demokratien sind stabil genug, der Herausforderung des Populismus entgegenzutreten.
- Brasilien heute und die Demokratie: Die Demokratie in Brasilien hat in den letzten 20 Jahren beachtliche Fortschritte erzielt, heute ist sie bedroht.
- Deutschland heute und die Demokratie: Die Berliner Republik ist eine bessere Demokratie als die der Weimarer oder Bonner Republik.
- Brasilien heute und der Populismus: Brasilien hat hinreichend Resilienzen gegenüber dem rechten Neopopulismus von Bolsonaro.
- Deutschland heute und der Populismus: Der Rechtspopulismus wird auch in Deutschland bleiben, aber die Demokratie nicht substanziell bedrohen.
von Ana Paula Katz Calegari
Prof. Dr. Wolfgang Merkel
Der Leiter des am WZB Berlin Social Science Center durchgeführten Forschungsprogramms „Demokratie und Demokratisierung”, Prof. Dr. Wolfgang Merkel sprach in einem Interview mit dem DWIH São Paulo über Standpunkte und Reflexionen zu diesem Thema.
Prof. Dr. Wolfgang Merkel ist zudem Mitglied der Akademie für Humanwissenschaften Berlin-Brandenburg und in anderen Institutionen. Als Autor und Herausgeber verschiedener Bücher veröffentlichte er kürzlich mit Ko-Autor Sascha Kneip Democracy and Crisis: Challenges in Turbulent Times (Springer, 2018) und mit den Ko-Autoren Raj Kollmorgen und Hans-Jürgen Wagener The Handbook of Political, Social and Economic Transformation (Oxford University Press, 2019).